Dornröschen Tschaikowsky J. Neumeier J. Rose
Vorstellung am 10.10.2023
Wenn vom klassischen russischen Ballett die Rede ist, so denken wir sogleich an Peter Tschaikowskys Ballettmusiken zu Dornröschen, Schwanensee und der Nussknacker. Dornröschen wurde in der Choreographie von Marius Petipa am Mariinsky Theater zu Petersburg anno 1890 uraufgeführt. Der Choreograph und Tänzer Petipa stammte aus Frankreich, genauer aus Marseille.
Es ist ein vernehmbarer französischer Akkord, der das russische Kulturleben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts positiv beeinflusste. Man denke in diesem Kontext an den Hofjuwelier des Zaren Peter Carl Faberge, der ursprünglich ebenso französisch hugenottische Wurzeln hatte. Auch das Märchen über "la belle dormant en bois", wie Dornröschen ursprünglich hieß, geht auf eine französische Vorlage Charles Perraults aus dem 17. Jahrhundert zurück.
Diese Ballett-Preziose samt Tschaikowskys Musik kam nun im Festspielhaus zu Baden-Baden nach seiner Hamburger Premiere 2021 zur Wieder-Aufführung und schloss das John Neumeier Tanzfestival 2023 feierlich ab.
Mit opulenten, teils historisierenden Kostümen und höchst aufwändigem Bühnenbild von Jürgen Rose, einem langjährigen Weggefährten Neumeiers, entstand hier ein Ballett-Traum aufs Neue, der zum Schwelgen anregte und mit schönsten Szenen und Bildern faszinierte.
Bild/Fotocredit Festspielhaus BAD Kiran West
In gewisser Weise wurde eine Renaissance des Grand Siecle der Ballettkunst heraufbeschworen. Es spielte die Philharmonie Baden-Baden unter Leitung von Gastdirigent Markus Lehtinen durchweg auf hohem Niveau. Das Orchester traf die tänzerische Partitur Tschaikowskys klangschön, mit rhythmischer Verve und süß singenden Violinsoli von Konzertmeister Jewgeni Schuk. Die Klangfarben schillerten und Tschaikowskys Genius wurde trefflich verlebendigt, ob nun die Hörner zu den Jagdszenen schmetterten oder das ganze Orchester zum großen Hofball aufspielte. Zum Glück ist auch in unseren horriblen Zeiten das Schöne noch nicht gänzlich verboten!
Neumeier griff dabei auf eine ältere Inszenierung zurück und verwob diese mit der überlieferten Tradition, vermischte seine Erfindung teils mit Choreographien Petipas selbst und anderer. Das könnte man als gemäßigt modern abtun. Das ist es aber nicht, denn der Respekt vor der Tradition impliziert eine gewisse klassische Zeitlosigkeit in sich.
Nicht nur handwerklich gekonnt sind die Staffage-Architekturen Jürgen Roses: filigrane hölzerne Schloss-Prospekte, mit offenen luftigen Turm-Etagen und geschwungenen Treppenläufen mit Balustraden. Hinzu treten gemalte Wald Kulissen und ein Interieur mit einem neugotischen Fenster gerahmt von Ahnenbildern. Freilich werden die Türme zuletzt im Verfall und von Rosen umrankt sein, ehe Dornröschen wachgeküsst wird. Nicht von ungefähr verheißt der Titel Dornröschen eine Verbindung von Genuss und Gefahr, von Schönheit und Leid, wie es Neumeier in seinem Kommentar hervorhebt.
Das Allegro vivo hebt an und der Prolog im Wald beginnt. Es hieße nur Dornen streuen, statt Rosen erblühen zu lassen, hier über jede Szene ausführlich zu berichten. Wir wollen selbst den interessiertesten Leser nicht langweilen. Aber da tanzen sie vor dem gemalten Dickicht der Waldstaffage, der Prinz Desiree in Jeans als Reminiszenz an die Gegenwart von Jacobo Bellussi in artistischer Bewegung verlebendigt. Im Dickicht erkennt man einen runden Turm, wo der Menschenfresser hausen soll und in Wirklichkeit aber die Prinzessin im 100-jährigen Schlaf liegt. Die Freunde des Prinzen queren als ausgelassene Jagdgesellschaft mit Gewehren, die einen vollen Kasten Bier hinter sich her zieht, die Bühne. Sodann ein Mädchen, flink getanzt von Ida Praetorius. Und natürlich der Dorn, gegeben von Matias Oberlin sowie die Rose verlebendigt von Xue Lin. Da kehrt sich das Bild zum Palast im Winter. Prinz und Rose treten auf und König Florestan XXIV., angemessen königlich getanzt von Florian Pohl. Sowie die Königin, grazil von Anna Laudere umgesetzt.
Nun füllt sich die Szene, denn die Taufe für das lang ersehnte Kind steht an. Nach langem Warten kam endlich eine Prinzessin zur Welt. Der ganze Hofstaat kommt zusammen. Catalabutte der Hoftanzmeister und die Königinmutter führen den Reigen der gehobenen Kreise an. Daraus wird ein buntes Treiben, das mit witzigen Pointen der Pagen und Lakaien im Habit des 18. Jahrhunderts glänzt, die mit Silberkännchen gefüllte Tabletts umhertragen und mit dem Staubwedel umherscharwenzeln.
Es gibt einen Tanz der Hofdamen als Sternenballett. Gerade hier bezieht Neumeier die Choreographie Petipas wieder bewusst ein. Es ist ein Augenschmaus der tänzerischen Bewegungen. Und nach den Szenen des Erwachsenwerdens der Prinzessin Aurora hebt dann das große Rosenfest an.
Hier überbietet sich die Produktion geradezu: in Tänzen mit Blumengirlanden zu Ehren des 16 Geburtstags von Prinzessin Aurora. Es tanzen russische und indische Prinzen, ägyptische und spanische. Sowie Freundinnen und Kinder als junge Hofdamen, Landgrafen; sie alle vollführen einen großen prächtigen Ball in den buntesten Blumenfarben, ein wahres Fest für das Auge. Ein entzückendes Tableau.
Vorerst ist die Stunde des Festes vorüber. Es geht wieder in den finsteren Wald. Aurora nur noch ein Schatten. Eingeschlafen in einem verfallenen Schloss, von dornigen Rosenranken umstrüppt.
In den Rosen-Büschen finden sich Totengrippe. Die Jagdgesellschaft tanzt im Wald mitsamt dem Prinzen. Endlich wird die Prinzessin auf ihrem Lager wachgeküsst.
Mit ihr erwacht der Hof aufs Neue. Die Vorbereitungen zur Hochzeit laufen an. Nun wandelt sich das Bild zu Pracht und. Prunk. Der große Hochzeitsball darf kommen. Das wird in großer Gala Garderobe in historischen Kostüm gegeben, die Herren in dunklen Uniform mit vergoldeten Epauletten und Orden, die Damen im rauschenden Ballkleidern. Walzer tönen. Der blaue Vogel erscheint. Christopher Evens tanzt seine Pirouetten. Auch hierbei bezieht Neumeier wieder die historischen Choreographien Petipas ein.
Und als wäre alles nur ein Traum gewesen, erscheint beim Epilog, fast wie auf einer Bank an der Lichtentaler Allee, im Walde der Prinz Desiree und ein Mädchen zuletzt.
Das ist eine großartige Vision des Märchens Dornröschen mit der Musik Tschaikowskys, die zu berühren vermag und die in ihren einprägsamen wunderschönen Bildern noch lange nachklingen wird. In den pas des deux und großen Gruppenszenen mit ihrer duftigen so tänzerisch schwungvollen und berührenden Musik. Standing Ovations für die Vorstellung, denen wir uns sehr gerne anschließen.
Jean B. de Grammont