Ein Sieg musikalischer Schönheit
von Jean B. de Grammont
17. April 2023
Im Rahmen der Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker kam am 8. April 2023 im Festspielhaus Baden-Baden Georg Friedrich Händels allegorisches Oratorium »Il trionfo del Tempo e del Disinganno« unter der Leitung von Emmanuelle Haïm zur Aufführung.
Georg Friedrich Händels allegorisches Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno (Der Triumph der Zeit und der Erkenntnis), dirigiert von Emmanuelle Haïm, bildete den einzigen nennenswerten Beitrag an Barockmusik während der Osterfestspiele der Berliner Philharmoniker im Festspielhaus Baden-Baden 2023. Dieser Geniestreich des erst 22-jährigen Händel, komponiert 1707 während seines langen Italien-Aufenthalts in Rom auf ein Libretto des komponierenden und dichtenden Kardinals Benedetto Pamphili, kam konzertant mit dem Kammerorchester der Philharmoniker zur Aufführung, bereichert um zwei Flauti dolci, im Basso continuo verstärkt um Theorbe und Truhen-Orgel. Glückliche Zeiten, als Kardinäle wie Pamphili selbst, übrigens Mitglied der berühmten Künstlergesellschaft der Arcadia, sich als Kreative verstanden und als solche praktizierten. Freilich war die Oper auf päpstliches Dekret hin offiziell verboten worden, also sattelte man auf die dramatische Form des Oratoriums um. Auch hier war reichlich Raum für Musik-Dramatik, und die Komponisten konnten ihrer Fantasie freien Lauf lassen.
Das sprachlich schöne und feinsinnige Libretto Pamphilis ist keineswegs ein moralinsaurer Diskurs allegorischer Personen, als da sind Piacere (Vergnügen), Belezza (Schönheit), Disinganno (Erkenntnis) und endlich: il Tempo (Zeit). Zwar wird das bloße Vergnügen als oberflächlich gescholten, und die Erkenntnis, dass alle Schönheit vergänglich ist, gibt Raum zu schönsten Lamenti-Arien. So verwundert es nicht, dass letztlich Erkenntnis und Zeit das Zepter in der Hand halten gemäß der barocken Lehre der Vanitas. Drei Akte, reich an Arien und Ensembles, hat das Werk. Hier streut Händel ein ungemein reiches Füllhorn an Ideen voller Italianita und glutvoller Melodien aus, die sich an kompositorischer Fantasie zwischen Sturm, Ekstase und verhaltener Klage überbieten zu wollen scheinen.
Die Cembalistin Emmanuelle Haïm ist bekannt für ihren temperamentvollen, zugleich aber behutsamen Interpretationsstil, der kleinste Details liebevoll nachzeichnet, ohne die Sicht auf das Ganze zu verlieren. Haïm kommt aus der Schule des für seine subtile Eleganz berühmten Clavecinisten Christophe Rousset und spielte lange Zeit bei Les Arts Florisssants des um den französischen Barock so verdienten William Christie. Ihre Verbindung zu den Berliner Philharmonikern rührt von ihrer Assistenz für Sir Simon Rattle. Wie sehr ihr gerade Händel liegt, bewies Haïm mit ihrem von rhythmischen Impulsen geprägten Dirigierstil detaillierter Handzeichen, teils accompagnierte sie vom Cembalo aus.
Der Autor erlebte zuletzt dieses Werk Händels live vor langer Zeit. Und zwar im prächtigen Musikvereinssaal in Wien mit Ikonen der historischen Aufführungsweise wie Nikolaus Harnoncourt und seinem Concentus Musicus nebst einer erlesenen Solistenriege. Damit verglichen kann allein schon der Raum des Baden-Badener Festspielhauses mit dem spröden Charme eines Großkinos nicht mithalten, vor allem was Akustik und Atmosphäre betrifft. Zudem mag das in dieser Aufführung gepflegte Spiel auf weitgehend normalen Instrumentarium für Puristen abschreckend sein. Emmanuelle Haïm sagt aber mit Recht, es komme weniger auf die Instrumente als auf den Interpretationsansatz an. Und dieser mochte selbst eingefleischte Anhänger historischer Spielweise überzeugen. In der Tat beglückte der philharmonische Edelsound – da offenkundig auf barocke Rhetorik geschult – schon von der lebhaften Sinfonia mit ihren schwungvollen Violin- und Oboen-Soli in bester Concerto Grosso-Manier von Anfang an. Überhaupt stellt das Drama höchste Ansprüche an die Sängerinnen und Sänger, die Staunen machen.
Elsa Benoit in der Rolle der Belezza überzeugte mit flockigen Koloraturen und stupender Technik eines Soprans von leuchtender Klarheit. Heimlicher Star des Abends war Julia Lezhneva als fröhlich lockender Piacere. Ihre Fioreturen perlten und blitzten in schönstem Belcanto. Die berühmte von Händel mehrfach verwendete Sarabanden-Arie „Lascia la spina, coglie le rose“ wurde zum berührenden Höhepunkt des Abends. Erwähnenswert desgleichen die lebhafte Sinfonia mit ihrem Orgel-Solo – wie muss es gewirkt haben, als der junge Händel selbst die Tasten gleich einer Inkarnation des Jünglings Piacere, traktierte! Was einst in Rom gefiel, fand nun selbst in Baden-Baden Gefallen. Besonders ergreifend auch die Klage der Disinganno zum Ostinato-Bass, gesungen von dem Countertenor Carlo Vistoli (eingesprungen für Justin Davies), der wie in weiteren Arien mit feinherbem Timbre und stimmlicher Gelenkigkeit überzeugte. Nicht zu vergessen der Tenor Anicio Zorzi Giustiniani, der mit Klangschmelz und ausgewogenen Timbre der Zeit seine Stimme verlieh. In den Ensembles und den die Akte teils beschließenden Quartetten glückten allen Solisten schönste Linien. Als bemerkenswert sei auch das Continuo-Spiel der Theorbistin hervorgehoben. Ohne Frage ein Händel-Gastspiel, das auch nördlich der Alpen für Italien-Sehnsucht sorgte. In gewisser Weise wurde Händels allegorisches Oratorium nicht zu einem Sieg von Zeit und Vergänglichkeit, sondern es wurde zu einem Sieg musikalischer Schönheit.
Fotos: Bettina Stöß / Berliner Philharmoniker, Bettina Stöss, Bettina Stöß