Zum vorletzten Mal gastierten die Berliner Philharmoniker im alten Weltbad Baden-Baden zu den diesjährigen Osterfestspielen 2024. In zwei Jahren schon werden sie in der Osterwoche nach Salzburg zurückkehren.
Wieder standen in den Kolonnaden, in den prächtigen Alleen und alten Straßenzügen die Blumenkübel mit entsprechenden Text Zitaten zum Musikleben in Baden-Baden. Diesmal in österlich leuchtenden Orange. Auch die Blumen waren sorgsam passend zur Oper Elektra von Richard Strauss arrangiert. Siehe dazu meine extra Besprechung auf dieser Seite. Freilich weisen die Blumenkübel zugleich auf die im Jahr 2024 folgenden Festspiele in Baden-Baden hin.
Aber gerade das Osterfestival mit dem weltberühmten Berliner Orchester ist ein Höhepunkt mit internationaler Ausstrahlung. Das tut dem in die Jahre gekommenen Weltbad sicher gut. Baden-Baden hat schon bessere Tage erlebt und allenthalben scheint mir das Weltbad in einer Vor-Stufe des Verfalls angekommen. Die Dekadenz verfeinerter Lebensart wird auch hier allmählich zu einer Dekadenz der Lebensformen. Elitäre Eleganz weicht einer mediokren Mittelmäßigkeit. Proleten prägen mehr und mehr das Stadtbild, gehobene Geschäfte und Galerien gibt es immer weniger. Aber in der Festival Lounge und in den Konzerten sammelt sich dieser Tage das sogenannte Bildungsbürgertum, eine vom Aussterben bedrohte Spezies, während die da gleichfalls vertretenen Nouveuaux-Riche mit Attitüden genauso vertreten sind. Und so leuchtete es in Baden-Baden die Woche vor Ostern und über die Festtage zumindest musikalisch noch einmal in alter Pracht und Größe auf.
Wir besuchten zwei Orchesterkonzerte und eines der Kammerkonzerte. Getreu dem Motto aller guten Dinge sind drei. Zu den Osterfestspielen wurden auch andere Räumlichkeiten einbezogen.
Die Kammerkonzerte fanden statt im Maler-Saal des Hotels Maison Messmer und vor allem in dem großen Weinbrennersaal des Kurhauses. Hierbei konnte man die zahlreichen Kammermusik Ensembles der Berliner Philharmoniker erleben.
Wir ziehen ausnahmsweise einmal das Pferd von hinten auf und beginnen mit dem letzten besuchten Orchesterkonzert.
Im Festspielhaus gaben die Berliner Philharmoniker unter Kirill Petrenko zuletzt das Violinkonzert von Jean Sibelius und die vierte Sinfonie von Johannes Brahms. Die Geigerin Lisa Batiashvili glänzte in Sibelius Violinkonzert vom Allegro moderato an mit klarer leuchtender Tongebung und natürlicher Virtuosität. Dieses Konzert in d-Moll des großen finnischen Komponisten zählt zu den Klassikern der Literatur für Violine und gewiss auch zu den schönsten Violinkonzerten. Entstanden ist es erst gegen 1903, es steht aber ganz in der Tradition der Spätromantik. Und man bedenke dass Sibelius in Wien studierte, das ist keine finnische Nationalmusik, das Werk ist eher in der süddeutschen und mitteldeutschen Kompositionsweise gehalten.
Der ausgesprochen lyrische Beginn wurde hier akkurat und sacht von den Philharmonikern begleitet, darüber konnte sich die Geigerin aussingen in wunderbaren Kantilenen, die teils von der ungarischen Volksmusik beeinflusst sind. Allerdings wird in einer Art solistischen Kadenz und weiterer Soli darauf der Einfluss Johann Sebastian Bachs deutlich. An dessen Violin Partita für Violine allein in d-Moll inspirierte sich Sibelius. Das ist deutlich zu hören in Läufen und Arpeggien.
Indes entwickelt sich der Satz wuchtiger und dramatischer und ist insgesamt dunkel timbriert.
Mit viel Sinn für die weiträumige Architektonik des Satzes und mit feinen Klangfarben der Holz- und Blech-Bläser gestalteten die Philharmoniker unter Petrenkos Dirigat angemessen und einfühlsam.
Ein zarter Gesang ist dann das Adagio di molto, was wunderbar eingefangen wurde. Während das Allegro ma non tanto ein wirbelndes, ja beschwingtes Finale abgibt. Sibelius selbst sprach von einer Polonaise für Eisbären die Tango tanzen. Auch das gestalteten Solistin wie Orchester mit aller Bravour. Die Zugabe von Bachs berühmten Air, anmutig nur von Lisa Batiashvili zusammen mit Streichtrio und Kontrabass gegeben, war ein passendes Nachspiel
Bleibt schließlich Brahms 4 Sinfonie. Als Brahms sich die Sommermonate der Jahre 1884 und 85 in die Steiermark zurück zog, an der Südseite des Semmering, entstand seine vierte Sinfonie Im traurigen e-Moll.
In dieser Gegend "werden die Kirschen nicht süß und essbar" schrieb damals Brahms. Ein wenig davon ist auch auf die Sinfonie übergegangen. Denn leichte Kost ist das keineswegs. Eine gewisse melancholische Endzeitstimmung liegt über den Sätzen. Brahms selbst dirigierte die Uraufführung in Meiningen im Herbst 1885. Als diese Sinfonie erstmals in Wien aufgeführt wurde, kam sie nicht so schnell an beim Publikum. Lag es an dem schlichten Kopf Thema aus zwei Tönen, den Stufen einer Terz- Sequenz nachsteigend? Gegner meinten Brahms wäre wieder nichts eingefallen. Aber die Weise wie er dieses Thema verarbeitet und aus dieser Keimzelle einen ganzen groß angelegten Satz gestaltet mit einem Seiten-Thema ein E-Dur ist bewundernswert.
Herbstliche Stimmung ist in diesem Satz eingefangen.
In den kontrapunktischen Verflechtungen ist viel sinfonisches Leben enthalten. Das wurde mit Petrenkos Taktgebung und den meisterhaft aufspielenden Berliner Philharmonikern hervorragend verlebendigt. Herrlich der in den Violoncelli und Bläsern aufleuchtende Seitengedanke in E-Dur mit seinem rhythmischen Pochen und den tickenden Pizzicati.
Tief traurig der langsame Satz mit seinem schwebenden Thema, das zunächst in den Hörnern und tiefen Holzbläsern angespielt wird. Hier zu feierlichen Ernst gesteigert und wunderbar zelebriert. Das Allegretto giocoso wurde in fulminantem Tempo gegeben. Es entfaltete seine rauschhafte Kraft samt dröhnendem Kontrafagott, Pauken und klirrender Triangel.
Das ausgedehnte Finale, das in seiner Anlage in freier Form auf die barocke Passacaglia zurückgeht, hebt an mit ernsten Posaunen-Chorälen und zeigt die ganze Kunst der Variation, der Brahms fähig war. In der weit gespannten Architektur dieses Finales wurden alle Details sorgsam ausgearbeitet. Es gelangen bezaubernde Solopartien, etwa der Flöte. Alles in allem war dies eine Maßstab setzende Interpretation der vierten Sinfonie von Johannes Brahms. Eine echte Hommage an den Komponisten, der so lange viele Sommer in Baden-Baden verbrachte, war das. Ein den Osterfestspielen 2024 würdiges Finale!
Im Weinbrenner-Saal gastierte das Philharmonische Oktett mit Schuberts berühmten Oktett in F-Dur.
1824 im Auftrag eines Klarinette spielenden Grafen entstanden, zeigt es zugleich Schuberts Auseinandersetzung mit seinem Über-Vater und Vorbild Ludwig van Beethoven. Offensichtlich war Schubert nach einer Schaffenskrise gerade dabei seine Komplexe diesem Großmeister gegenüber zu überwinden. Freilich knüpft diese Kammermusik an Beethovens bekanntes Septett an und es ist im besten Sinne Unterhaltungsmusik im Geist des 18. Jahrhunderts. Immer haftet dem Begriff Unterhaltungsmusik etwas Abwertendes an. Aber wer die Musik des 18.Jahrhunderts kennt, weiß genau wie anspruchsvoll und kunstvoll die gehobene Gesellschafts-Schicht damals unterhalten werden mochte. Außerdem fügte ja Schubert noch eine weitere Geige dazu und die langsame Einleitung samt dem ersten Allegro wie der ausgedehnte Schlusssatz haben nachgerade sinfonische Dimensionen. Zeitgleich arbeitete Schubert an seiner großen 8 Sinfonie. Und im Tremolo des Andante molto das letzten Satzes ist eine unheimliche Dramatik eingefangen, wie sie kennzeichnender nicht sein könnte für Schuberts romantischen Stil.
Die Berliner Kammermusiker gestalteten das Oktett mustergültig klangschön, standen wunderbar im Dialog und entwickelten viel Sinn für Details. Aus dem spannungsgeladenen Beginn erwuchs ein feines Dialogisieren der Streicher und Bläser, ein lebendiges Forstspinnen thematischer Motive von Stimme zu Stimme im ersten Allegro. Seelenvoll sang die Klarinette im Adagio. Tänzerisch gelang das Allegro Vivace und das liedhafte Thema des Andante wurde in sieben Variationen kunstvoll variiert und durchgeführt, als wäre Schubert der romantische Bruder eines Haydn oder Mozart. Während das scherzohafte Menuetto mit feinen melodischen Linien des Trios Streicher wie Bläser zu Kapriolen motivierte.
Der Schauerromantik und kühnen Modulationen samt Tremolo im Andante molto kontrasierte das heitere Finale voller Überraschungsmomente.
Mit philharmonischen Edelsound wurde Schuberts Okett an diesem Abend zu einem gelungenen Divertissement mit Tiefgang, das überdies wunderbar in den großartigen Weinbrenner-Saal mit seinen glitzernden Kronleuchtern passte.
Den Auftakt der Orchesterkonzerte machten die Berliner Philharmoniker unter Tugan Sokhiev zusammen mit dem Pianisten Jan Lisiecki. Eingangs stand Beethovens drittes Klavierkonzert in dunklem c-Moll. Deutlich spürt man den Einfluss Mozarts auf Beethoven, vor allem von Mozarts d-Moll und c-Moll Konzerten, die beide von Beethoven bewundert wurden und zu denen er eigene Kadenzen komponierte.
Der junge kanadische Pianist Lisiecki trat erstmals gemeinsam mit den Berliner Philharmonikern auf. Er gab eine beeindruckende Probe seines Könnens. Das war der Geist des Sturm und Drang des 18 Jahrhunderts von Beethoven auf die frühe Romantik übertragen, der hier im ersten Satz zu spüren war. Sokhiev spornte die Philharmoniker zur bestmöglichen Begleitung an, während Lisicki auf den Tasten mit Emphase, Gefühl und großer Brillanz Beethoven alle Ehre gab. Diese Höhe wurde auch im idyllischen Largo und im ausgesprochen heiteren Rondo Finale beibehalten. Mit Chopins Regentropfen Prelude gab es dann noch ein Zuckerl als Zugabe.
Einen Koloss der spätromantischen Sinfonik hielt die zweite Hälfte des Konzerts parat. Mit Bruckners 7 Sinfonie in E-Dur. Bruckner weilte im Sommer 1882 in Bayreuth, zu dieser Zeit beginnt er mit den Arbeiten an der Sinfonie. Ein Jahr später erreicht Bruckner die Nachricht vom Tode des von ihm bewunderten Richard Wagner. "Genau soweit war ich gekommen, als die Depesche aus Venedig eintraf (mit der Todesnachricht Wagners) und da habe ich geweint-oh wie geweint und dann erst schrieb ich dem Meister die eigentliche Trauermusik". Die Berliner Philharmoniker setzten unter Sokhiev die großen ausgedehnten Gesten des weiträumigen Eröffnungs-Satzes beeindruckend um.
Im steten Wechsel zwischen Wucht und Feinheit. Insbesondere dann in der Trauermusik auf Richard Wagner im Adagio, das mit der Vortragsbezeichnung "sehr feierlich und sehr langsam" zusätzlich charakterisiert wird, beeindruckte der solistische Einsatz der Blechbläser, vor allem der sogenannten Wagner Tuben. Mit großer Klage Geste wurde diese Trauer-Musik auf den verehrten Bayreuther Meister gestaltet.
Wie die Klangmassen im Scherzo auftrumpften, war bewunderungswert. Wie ein Hochgebirge in Musik, über das im eher lyrischen Trio dazwischen die Sonne aufging. Mit flirrenden Streichern ging es in das ausgedehnte Finale, das mit majestätischen Akkorden schloss.
Ein würdiger Auftakt zum Bruckner -Jahr 2024!
Jean B. de Grammont