Teodor Currentzis und das Utopia Orchestra


Fotocredit Alexandra Murayeva und Stas Levshin
Teodor Currentzis machte mit seinem neu gegründeten Utopia Orchester auf seiner Tournee an zwei Abenden Station im Festspielhaus Baden Baden. Dies Orchester ist mit Instrumentalisten vieler Länder besetzt. Es Utopia zu nennen, ein schöner Gedanke, der vorgibt von der Utopie der Künste zu träumen. An zwei Abenden wurde bedeutende sinfonische Literatur aus der Zeit der Jahrhundertwende um 1900 gegeben. Und zwar Gustav Mahlers fünfte Sinfonie und Anton Bruckners Neunte. Eingangs stand die Komposition Passacaglia Music for Orchestra lX des zeitgenössischen Komponisten Jay Schwartz.
Currentzis ist bekannt für seine Extreme und das Anders machen wollen um jeden Preis. Das kann gelingen, aber auch gründlich daneben gehen.
Schwartz Komposition zitiert ein Motiv aus dem Schubert Lied „Du bist die Ruh“und baut es ein in einen Passacaglia betitelten Satz. In der Tat wandert dieses Motiv im Orchestersatz düster und bedrohlich zu einem riesigen Crescendo anschwellend. Wollte man böse sein, könnte man sagen viel Lärm um nichts. Oder erst kam der Lärm und dann die Musik. Für mich hatte das Stück eher den Charakter von Filmmusik.
In diesem Fall meine ich mit und dann kam die eigentliche Musik expressis verbis eben die Musik von Gustav Mahlers Fünfter Sinfonie. Dieses gigantische sinfonische Werk erst 1904 in Köln uraufgeführt, steht wie eigentlich das gesamte OEuvre Mahlers für den Aufbruch in die Moderne. Zwar entstand es in der Idylle des Wörthersees, aber uns scheint dieser Riesenapparat des Orchesters und die im besten Sinne fantastisch überbordende Riesenbesetzung zugleich wie ein Abglanz der Belle Epoque, der Wiener Ringstraße, des Aufbruchs in die Zeit der zweiten Industrialisierung der Welt um die Jahrhundertwende. Vor diesem Hintergrund versteht man besser die fantasievollen Welten der Tonkunst eines Gustav Mahler. Gerne hätten wir uns jetzt darüber näher mit dem Schriftsteller und Mahler-Kenner Hans Wollschläger unterhalten, den zu kennen wir zu dessen und unserer Bamberger Zeit noch das Glück hatten.
Die ersten beiden Abteilungen der fünften Sinfonie bieten Anlass, extreme Ausbrüche des Orchesters darzustellen. Im Trauermarsch verarbeitet Gustav Mahler autobiografisches Material aus Kindheits-Eindrücken. Die eingangs hell aufblitzenden Fanfaren zitieren einen Marsch der Österreichisch-Ungarischen Armee der K.u.K. Zeit. Dann geht es in jähe Kontraste in gemessenen Schritt des Trauermarsches, hier mit viel Kraft und Ballung dargestellt. Das Seitenmotiv mit entsprechender Sanftheit in feinste Nuancen ausgekostet. Die zweite Abteilung wird zu einer grellen Orchesterwoge, aber hinreißend wie gemeißelt von dem ganzen Orchester geboten. Endlich prasseln die Ländler im Scherzo geradezu übereinander. Dies Scherzo geht unter Currentzis, dem man in seinen Bewegungen zudem seine Ausbildung als Tänzer ansieht, bis an die Grenzen des Möglichen in seinem Furor. Beruhigend sind nur die Trio-Einschübe darin. Endlich das berühmte Adagietto für Streicher und arpeggierende Harfe, vielleicht eine Liebeserklärung an Alma Mahler?. Bekannt geworden ist es nicht zuletzt durch Viscontis Verfilmung von Thomas Manns Erzählung Tod in Venedig. Hier wurde es zu einem lyrischen Hauch von schwelgenden Streichern und Harfentupfern stilisiert, bis attacca das tumultuöse Finale begann. Diesmal in Rondo-Form mit dem Bläser-Apparat anhebend und mit der kontrapunktischen Satzkunst vergangener Zeiten zu einem Ausklang voller Heiterkeit und Lebensfreude überschwänglich ausgeformt.
In eine ganz andere Klangwelt, ebenfalls modern, aber eher einer mystischen Spätromantik zugehörig, ging es am zweiten Abend mit Bruckners unvollständiger letzter neunter
Sinfonie. In den Jahren 1887 bis 1894 feilte Bruckner daran. Das Finale sollte eine Doppel-Fuge krönen und ist lediglich in Entwürfen überliefert. In Baden Baden gab man die abgeschlossene dreisätzige Fassung. In dieser Symphonie findet ebenso Bruckners überhöhter mystischer Katholizismus sein Äquivalent, denn keinem geringeren als dem lieben Gott selber, so es ihm denn gefalle, widmet Bruckner diese Sinfonie, nachdem er die beiden voran- gegangenen Sinfonien königlichen und kaiserlichen Majestäten widmete und zwar Ludwig ll von
Bayern und Kaiser Franz-Josef von Österreich, eigentlich eine konsequente Sache. Vielleicht mag uns heute eine solche Widmung naiv erscheinen, aber sie ist charakteristisch für das Wesen Anton Bruckners. Übrigens werden Motive aus der siebten und achten Sinfonie in der Neunten zitiert. Als vierte Majestät gleichsam erscheint Beethoven im Rücken. Nach wie vor ein unumgänglicher Meister der Sinfonie, ein erratischer Block an dem kein Komponist nach ihm mehr vorbei kam, so auch Bruckner. Auch Bruckners Neunte steht wie diejenige Beethovens in d-Moll.
Ob Currentzis und das Utopia Orchestra die wegweisenden Bruckner Aufführungen eines Günther Wand übertroffen haben, können wir nicht sagen, da uns der Live-Vergleich fehlt. Auf seine Art setzte Currentzis hier sicher neue Maßstäbe in der Bruckner Interpretation. Der getragene feierliche Beginn dieses ausgedehnten Kopfsatzes überzeugte jedenfalls mit seinen kraftvollen Klangfarben der Blechbläser und sattem Teppich der Streicher, die einen ungewöhnlich vollen homogenen Klang zauberten. Das überschwängliche Scherzo mit seinen folkloristischen Trio entzückte in seiner Vehemenz. Nicht zu vergessen der häufige Einsatz der Pauken in allen Facetten in dieser Bruckner Sinfonie, welche von sanftem Pochen bis zu gewaltigem tosendem Wirbel die Macht Gottes feiern. Ob Bruckner Georg Philipp Telemanns grandiose Donner-Ode kannte, ist eher unwahrscheinlich. In diesem Spätwerk kommt den Pauken eine ähnlich wichtige Gott glorifizierende Wirkung zu. Gewiss kannte Bruckner Joseph Haydns späte Paukenmesse, die zum Repertoire österreichischer Abteien, wie das Stift Sankt Florian eine war, gehörte. Hier war Bruckner lange Zeit als Organist tätig und hier ist seine sterbliche Hülle begraben. Ein Pauke spielender Putto aus dem Prinz Eugen Zimmer. Ein Meisterwerk barocker Dekorationskunst könnte Bruckner zusätzlich inspiriert haben, wie das Programmheft nahelegt.
Endlich klang dieser sinfonische Torso mit einem feierlichen Adagio weihevoll aus. Mit den Akkorden der Wagner-Tuben und kraftvollen Akzenten der übrigen Blech-Bläser, feinsten Linien einer solistischen Flöte, farbigen Holzbläsern über dem Schmelz der Streicher wurde das ein würdiger Beitrag zum Bruckner Jahr.
Jean B. de Grammont