Erstmals wurden Telemanns Kantaten, die der Komponist zu seiner Amtseinführung als Kantor und Musikdirektor der freien Hansestadt Hamburg im Herbst 1721 aufführte, auf Tonträger gebannt. Das ist wieder dem Label CPO zu danken, dass uns unbekannte Meisterwerke aller Epochen erschließt. Auf hohem Niveau stehen in der Regel auch die informativen Booklets des Labels, hier ist es der Telemann-Experte Wolfgang Hirschmann.
Allerdings griff Georg Philipp Telemann, der berühmteste deutsche Komponist seiner Zeit neben Händel, dabei auf ältere Jahrgänge zurück.
Telemann war nicht umsonst der in Leipzig favorisierte Kandidat vor seinem Freund Johann Sebastian Bach. Denn Telemann war Bach um Jahre voraus in Sachen vokaler Kirchenmusik. Als Bach in Mühlhausen und später in Weimar, hier als Kirchenmusiker und dort als Hofkapell-Meister wirkte, entstanden nur vergleichsweise wenige geistliche Kantaten aus seiner Feder. Gemeinsam mit dem Theologen und Dichter Erdmann Neumeister hat Telemann bereits für das Kirchenjahr 1710/11 einen bedeutenden kompletten Jahrgang geschaffen, nämlich das „Geistliche Singen und Spielen“ mit 72 Kantaten. Das ist der erste Kantaten-Jahrgang im modernen theatralischen Stil, aus einer Abfolge von Chor, Choral, Rezitativ, Arioso und Arie. Gewissermaßen revolutionär zu seiner Zeit und ausgesprochen modern, eine Art Reform der protestantischen Kirchenmusik war das. Diese Werke kannte Johann Sebastian Bach zum Teil und nahm sie sich zum Muster. Telemann war zu dieser Zeit Hofkapell-Meister in Eisenach. Später als Musikdirektor in Frankfurt a.M. folgten erst der sogenannte „Französische Jahrgang“ und darauf die beiden Teile des „Concerten Jahrgangs“. Daneben entstanden geistliche Kompositionen, die keinem Jahrgang zugeordnet werden können. Wie die Titel verraten folgte Telemann in jedem Jahrgang einem anderen musikalischen Prinzip. Aus genannten Werk-Gruppen stammen die hier von der Hamburger Ratsmusik eingespielten Kirchenstücke.
In Hamburg war es seit Telemann nun Usus vor und nach der Predigt jeweils eine Kantate aufzuführen. Darauf erklangen Ausschnitte aus einer dritten Kantate, gewissermaßen als Appetizer auf einen späteren Gottesdienst.
Die Hamburger Ratsmusik unter Leitung von Simone Eckert spielt in kammermusikalischer Besetzung, also Streichquintett mit Violone und zusätzlich einem farbenreich besetzen Basso continuo. Das heißt mit Viola da Gamba, Truhen Orgel, Theorbe und Barock-Fagott. Die Gambe ist Simone Eckerts Instrument par Excellence. Auch der „Chor“ ist solistisch besetzt, wie das in Hamburg bei den regulären Kantaten üblich war. Mit Hanna Zumsande Sopran, Genevieve Tschumi und Mirko Ludwig Tenor sowie Klaus Mertens Bass stehen erfahrene Vokalisten bereit. Mit der Kantate „Es ist ein großer Gewinn“ aus dem zweiten Teil des „Concerten Jahrgangs“, die vor der Predigt gespielt wurde, klingt uns der neue, geradezu galant moderne Stil Telemanns in die Ohren. Das Chor-Dictum, ein schwungvoller melodischer Satz mit einem Vorspiel von Streichern und konzertierenden Oboen, die strophische erste Arie ist tänzerisch und hat Menuettcharakter, sie wird erst vom Sopran, dann Tenor und schließlich vom Bass vorgetragen. Die prägnanten Rezitative gehen teils in Ariosi über. Beschlossen wird die Kantate von einem Choral, der von der Gemeinde mitgesungen werden konnte und sollte. Das Telemann aber auch retrospektiv im strengen Kontrapunkt komponierte, beweist die Kantate nach der Predigt „Kommt her zu mir alle“. Sie beginnt mit einer feierlichen Sinfonia in langsamen Zeitmaß gefolgt von einer strengen vierstimmigen motettischen Fuge über dem Generalbass, erst in der zweiten Hälfte treten Oboen und Streicher hinzu. Diese Kantate erklang zur Kommunion. Eine sehr schöne Altarie, die mit stockenden Rhythmen und flehender Melodie Jesu Gnadenblut besingt, folgt auf einen Choral. Genevieve Tschumi gestaltet das mit ihrer warmen Altstimme sehr berührend.
Laufende Streicher machen aus der zweiten Tenor-Arie ein Kabinettstück barocker Rhetorik, ehe dann ein Chorsatz mit einem jubelnden Halleluja Fugato dieses
Kirchenstück beschließt.
Beides konnte Telemann: bald altmeisterlich ernst, bald tänzerisch galant. Vielleicht liegt gerade in dieser Melange zuzüglich seines „vermischten Geschmacks“ der besondere Reiz seiner Musik?
Die dritte hier aufgenommene Kantate ‚Gesegnet ist die Zuversicht“ stammt aus dem „Geistlichen Singen und Spielen“. Sie besticht mit homophonen Chor-Sätzen in Da-Capo Form und Arien von melodischem Schwung. Deklamatorisch exquisiten Rezitativen und bringt einen gewissen frischen Wind in die Musik ihrer Zeit, der selbst in unserer Gegenwart noch spürbar wird.
Der französische Dichter und Nobelpreis-Träger Romain Rolland stellte das erstmals in seinem großartigen Essay über Telemann „Memoiren eines vergessen Meisters“ in den 1920er Jahren fest und leitete damit eine Telemann Renaissance ein.
Auf die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts muss diese Musik erst einmal irritierend gewirkt haben.
Alle Kantaten werden mustergültig musiziert, sie sprechen in ihrer kammermusikalischen Finesse verbunden mit einer intimen Klangpracht sehr an.
So wie die Gottesdienst-Gemeinde im 18 Jahrhundert erbaut war, können sich die von der schönen „Krankheit“ der Melomanie Befallenen in unserer Zeit daran erfreuen und wenn sie möchten sich ebenfalls geistlich erbauen.
Zwar spielt Simone Eckert, die zwischen die Kantaten gestreuten vier Gamben-Fantasien Telemanns, aus der lange verschollenen erst 2015 wieder durch Thomas Fritsch entdeckten Sammlung der „douze Fantasies pour la Viole de Gambe“ ebenfalls klangschön und ausdrucksvoll. Allerdings gefällt uns die Erstaufnahme von Thomas Fritsch und vor allen Dingen die sehr fantasievolle im Geiste der Gamben Virtuosen des 18. Jahrhunderts aufgenommene Version von Paolo Pandolfo sämtlicher Fantasien dieses „Bernsteinzimmers“ der Solo-Literatur für Viola da Gamba besser. Pandolfo wird in seiner Referenz-Aufnahme unseres Erachtens der lyrischen und virtuosen Sprache dieser Kleinodien für das feinsinnige aristokratische Instrument am besten gerecht.
Jean B. de Grammont